Wer hat Angst vor’m schwarzen Mann?

Und wenn er aber kommt? Dann laufen wir davon!

Als ich neulich wieder Pigrato in Eschbachs Mars-Romanen begegnete (eine seiner Fähigkeiten ist Personen plausibel zu beschreiben, auch wenn er nicht Stanislav Lem’s Tiefgang hat), als er dabei war, ein Fest zu verbieten, weil es möglicherweise zu „aufrührerischem Verhalten“ führen könnte, war mein erste Gedanke: Pigrato hat keine Kinder! Natürlich hat er einen Sohn, aber der kommt erst im zweiten Buch vor.

Denn eine der Sachen, die ich mit meinen und anderen Kindern gelernt habe, ist der unabwendbare Punkt: Verbiete es ihnen und die allermeisten werden genau das Gegenteil tun. Ein Punkt, der nie einen Gedanken wert gewesen wäre, wird zur Frage: Warum?

Die Frage, die Eltern am meisten nervt, wenn das Kind ein bestimmtes Alter erreicht und man keine Antwort mehr hat, sogar eingestehen müsste, dass man darüber meint noch nie (wahrscheinlich in früher Kindheit doch, aber gespeicherte Wahrnehmung ist so eine tricky Sache) diese Frage gestellt zu haben. Sich zumindest erinnert, dass es keine Antwort gab, die zufriedenstellend gewesen wäre.

Als ich erkannt hatte, dass Verbote meine Kinder eher anspornen, hab ich versucht, dem entgegezuwirken, indem ich ihnen versucht habe zu zeigen, wie man mit gefährlichen Gegenständen und Situationen umgeht, soweit ich dies kannte. Wenn ich jemanden beibringe ein Feuer zu machen, ist es wahrscheinlich innerhalb der ersten Versuche, dass man sich verbrennt, nicht schlimm, aber erfahrungsreich genug um Feuer und Hitze zu respektieren. Und den Abstand der notwendig ist, genauso wie die Massnahmen (kühlen, aber nicht zu stark, zu tiefe Temperatur ist genauso wie Verbrennen), die man ergreifen kann, wenn es nicht so gut gelaufen ist.

Ich sporne sie nicht an, Verbote auszutesten, ich helfe ihnen (und nicht immer und oft nicht immer im richtigen Moment, ich bin ein Mensch, fehlbar) das Warum so zu verstehen, wie ich es verstanden habe. Und weiter zu kommen als ich. Beim Warum.

Mit den Verboten kam ein neuer Gedanke in mir auf. Was ist es eigentlich, dass alle Herrschaftssysteme gemeinsam haben?

Ich erinnere daran, dass Gebote nur die inverse Form von Verboten ist, wie in „Du sollst nicht töten“. Schliesse ich mich an. Ehrlich gesagt, hätte ich nie über Töten nachgedacht, wenn es nicht diese Gebot gegeben hätte.

Warum soll ich töten?

Was ne ziemlich blöde Warum-Frage ist. Denn ich bin Alles-Fresser. In Konklusion hat die Evolution ergeben, dass ein Wesen, welches flexibel seine Nahrung umstellen kann, möglicherweise mehr Erfolgschancen hat. Ich bin ja nicht die einzige Art, die diese evolutionäre Eigenschaft geerbt hat.

Und klar, als Radikal-Pazifist gehe ich raus und ernähre mich von den Früchten (Pilze sind auch Früchte). Wenn ich eine Umgebung habe, die das hergibt. Aas ist auch eine begrenzte Möglichkeit, es muss schon frisch sein. Aber: Einer hat getötet. Klar kann ich die Schuld weiterschieben, ausser ich profitiere.

Aber daraus folgt, töten ist auch eine Option (frag das Mammut), wenn die Umstände es erforderlich machen. Und ich töte nicht, nicht wenn es die Situation nicht erfordert. Manchmal mag ich irren, was erforderlich ist. Aber es gibt einen Grund, warum man Soldaten drillen und drangsalieren muss, anders ist der Impuls NICHT ZU TÖTEN zu stark. Zumindest bei mir.

Ich tue es, wenn ich muss. Nicht mit Freude, sondern mit Respekt. Gegenüber dem Wesen, dass ich lange gekannt habe, und sei es nur ein Huhn. Das Nachkommen hat. Denn jedes Leben ist vergebens, dass sich nicht fortpflanzen darf. Und wer möchte der Richter sein?

Und wie verhalten sich Menschen eigentlich?

Wenn kein Gesetz, kein Ordnungshüter, keine beobachtende Instanz da ist?

Die einen Bohren in der Nase und beglückwünschen sich bei grösseren Fundstellen, die anderen gehen fremd und doch nicht wirklich (ausser den Krankheiten, die sie nach Hause schleppen). Wir kennen kein Gesetz, keinen Ordnungshüter. Ein Mensch verhält sich wie ein Mensch, mit allen Vor- und Nachteilen und nicht vorhersagbar im Detail.

Wenn Menschen ein Baby sehen, dann haben sie eine starke Tendenz zu reagieren. Was Überreaktionen einschliesst. Auf den Zustand des Wesens. Sie versuchen es zu beruhigen oder auch zu bespassen, sie interagieren mit diesem Wesen und kein Gesetz, keine moralische Regel, kein Verbot leitet sie in diesem Moment. Sie tun es einfach weil es sich richtig anfühlt (auch wenn es im Nachhinein anders aussehen mag und vielleicht ist). Zumindest war und ist es für mich so. Allerdings warte ich normalerweise bis das entsprechende Wesen mir signalisiert, dass es mich wahrnimmt.

Wenn Menschen Menschen in der Kneipe, irgendwo, treffen, dann haben wohl die Wenigsten irgendeine Verhaltensregel oder Gesetz im Kopf, ja Konditionierung ist ein heikles Problem, sie reagieren instinktiv mit Abneigung, Zuneigung, mal sehen, in unterschiedlichen Ausprägungen. Konditionierung springt erst nachher an. Darf man das? Ist das erlaubt?

Und Menschen regeln es, wo auch immer, normalerweise ohne Ordnungshüter. Ausser man muss eine höhere Instanz anrufen, weil man im Hier und Jetzt nicht mehr genug Argumente hat. Hilfe herbeifleht. Von Herrschenden mit mehr Macht. Weil man nicht ertragen kann auch mal zu verlieren. Die Erfahrung noch nie gemacht hat, vielleicht. Oder weil die Macht des Clans so falsch und mächtig ist, dass man keine Chance hat. Da kommt mir der Spruch „Wehret den Anfängen“ in den Sinn. Dynamik und exponentielle Funktionen werden ja vom Menschen gern unterschätzt, wie der König mit dem Schachbrett und dem Reiskorn, der Pleite ging oder die Titanic.

Und leider kann ich nur für mich und meine persönlichen Erfahrungen sprechen, nicht für ein WIR, für Andere, noch nicht einmal für meine Kinder. Und ich kann meine Erfahrungen ebensowenig weitergeben, wie meine Kinder dies könnten. Sie sind ein persönlicher Einmaligkeitsbereich. Den jeder Mensch, jedes Lebewesen, wie ich meine, hat. Und schätzen sollte, so er oder sie oder es es denn kann.

Aber in einer aggressiven Umwelt, und die bayrische Umwelt als Flüchtlingskind von Menschen aus Dresden, hatte durchaus ein aggressives Moment, man lernt Menschen aus Perspektiven kennen, die man nicht für möglich halten würde.

DENNOCH. Ich kann mich an keinen Menschen erinnern, den ich kennenlernen durfte, der sich je unmenschlich verhalten hätte oder dies auch nur im geringsten Maße angestrebt hätte. Wir waren unterschiedlicher oder gleicher Meinung, aber wir haben uns geschätzt (oder verachtet, oder verachtet und später geschätzt) als Menschen, als Wesen. Auch und gerade wenn wir uns bekämpft haben, Prügeleien sind mir aus früher Jugend nicht fremd. Ausser äusseren Einflüssen gab es keinen Grund Todfeinde zu sein. Nicht einer Meinung ja. Aber Freunde, auch wenn Abgründe bestanden und nicht überbrückt werden konnten. Aber die helfende Hand, wenn derjenige Hilfe braucht, egal was er oder sie oder es angestellt hat, war immer da. Von allen Mitverschwörern. Denen, die sich gesagt haben, ich kenn dich, ich weiss wann ich dir nicht trauen darf, du auch bei mir. Wir stehen dass durch. Gib mir deine Hand. Egal wie sehr man sich „gehasst“ hat. Hass ist auch nur Liebe, die Kehrseite der Medaille. Auch und gerade von denen, von denen man es nicht erwartet hätte, „Todfeinde“ oder „Niemande“ aus der Pubertät und in der Pubertät.

Ich habe Menschen kennengelernt, die ich erst aufgrund ihres Äusseren abgelehnt und nachher umso mehr geschätzt habe. Ich habe auch Menschen kennengelernt, die ihrem hüllenlosen Äusseren entsprochen haben, ja. Keiner von denen war ein „Unmensch“. Verzweifelt, ja, manchmal sich in das Optionslose navigierend. Und ja, Ausnahmen, bestätigen die Regel. Soweit, so korrekt.

Nehmen wir Milgram, extrem interessant, ja, aber statistisch wahrscheinlich? Ja, unter bestimmten Voraussetzungen entwickelt sich der Milgram-Gradient in eine nicht erfreuliche Richtung. Aber wissenschaftlich gesehen. Wir haben ein ziemlich kleines Sample, wir haben noch nicht mal Doppelt-Blind-Standard, wir haben ein Ergebnis. Korrekt. Eine Möglichkeit aus Vielen. Wir haben kein statistisch belastbares Material für die Normalsituation und auch für die Extremsituation, dass nahelegen würde, wir sind per se sadistisch und warten nur auf eine Gelegenheit.

Milgram sagt nur, wir können, Umstände entsprechend, Abgründe entwickeln, die wir gern aus unseren Träumen verbannen würden. Der Mensch hat immer und jederzeit die Möglichkeit sein eigenes Anti-Teilchen zu sein.

Es fehlen die Experimente, die Samples, aus denen wir lesen könnten, wieviele Wärter sich mit den Gefangenen verbünden, gemeinsam rauchen, trinken, essen und Spiele spielen, bis die Zeit vorbei ist. Es ist, schlicht gesagt, interessant aber nicht repräsentativ. Mein eigener Bias spricht dagegen.

Letztendlich bin ich wahrscheinlich nur ein Konstrukt meines Geistes, eine Idealversion, wie ich gerne wäre, mit der besonderen Fähigkeit, alles zu vergessen, was dem widerspräche. Hat wohl was mit dem Se;bsterhaltungstrieb zu tun. Mag sein.

Aber was ich weiss, aus der Summe meines Lebens, ich habe alle Verbote missachtet, die meine Eltern mir wohlwissend mitgegeben hatten, und ich habe trotzdem die „Prüfung“ in ihren Augen bestanden, nicht in meinen. Ich sah Notwendigkeiten aufgrund von Kindern, die hinterfragbar sind. Aber ich habe dem Rädchen nicht soviel Widerstand entgegengebracht, dass es zerschellt wäre. In den Augen meiner Eltern ein Erfolg. In Gedenken an meine Kinder auch. In Begriffen der imaginierten Idealversion ein Desaster, aber zumindest lebe ich noch, habe Kontakt zu allen. Man lernt im Alter die Kleinigkeiten zu schätzen.

Zurück zum Thema. Ich brauche keine Verbote. Ich wusste damals schon, dass es falsch war, Pralinen aus der Schachtel von Oma zu stehlen, ich kannte noch keine Nation, kein Gesetz. Und alles was Oma gesagt hat, als sie es entdeckte, und was mich viel gelehrt hat war: Warum hast du denn nicht gefragt?

Ich sinke heute noch vor Scham in den Boden.

Was ich damit ausdrücken will, ich weiss was für mich falsch und richtig ist (vorher). Und manchmal habe ich für mich das Falsche getan (blöd wenn die Auswahl heisst, das Falsche oder das doppelt Falsche). Normal, wir sind Menschen, niemand kann verlangen, dass wir immer das Richtige tun, Wir bemühen uns. Nach Kräften. Und im Grunde meines Herzens (ich nehme an, dass er mehr als ein Herz gibt, das ähnlich schlägt) wünsche ich niemandem Böses. Nicht, wenn ich darüber nachdenke. Auch wenn es mein momentanes Gefühl sein mag.

Ich habe meinen Kompass, alle Menschen die ich kenne haben ihren Kompass, wir verstossen alle gegen das Idealbild, dass wir von uns haben, aber wir befolgen Regeln, die keine Religion, kein Gesetz bis anhin definiert hat (oder nur als Zerrbild). Im Miteinander befolgen wir die Regel des Miteinander, nicht des Gegeneinander. Was ja oft versucht wird, divide et impera (teile und herrsche). Wir befolgen und verhalten uns nach Regeln, die keinem aktuell bekannten Gesetz entsprechen. Wir befolgen die Regel, dass die Situation in der Gemeinschaft so ausgeglichen als möglich sein sollte. So konfliktfrei wie möglich. So menschlich wie möglich. Auch und gerade wenn wir uns und unsere Idealversion dafür verleugnen müssen. Judas und Petrus, die armen Knechte.

Kommen wir zum Punkt zurück: Wer braucht Verbote(Gebote)?

Ehrlich? Das Schlimmste was passieren kann? Schon mal die Nachrichten wahrgenommen? Such dir deinen Filter aus und sag mir ernsthaft, dass das was du siehst nicht grausam ist. Und selbst wenn du dir ein Model für Kosmetik aussuchst, mach dir klar, was es für dieses Model bedeutet, gehe den Weg des Models in entsprechenden Mokassins. Es ist sicherlich nicht so heiss und napalmlastig wie Vietnam, aber es hilft beim Verstehen.

Oder du gehst zur einzigen Essenausgabe und alles was du bekommt ist ein extrem bleihaltiges Menü? Welche Grausamkeit der Herrschaft kann noch überboten werden? Gibt es noch Abgründe, die die Menschheit noch nicht ausprobiert hat? Ausser der Selbstauslöschung?

Aber wem verdammt nochmal sind Verbote hilfreich, wenn wir sie gar nicht benötigen, um mit anderen in Kontakt zu treten?

Ob ich Religionen, Könige, Pharaonen, Kaiser, Demokratie, egal welche Herrschaftsform ich anschaue, ohne Verbote geht es nicht. Verbote definieren nur eines: Macht über Andere.

Um zum Finale zu gelangen, warum haben so viele Menschen Angst vor Anarchie, wenn jeder Mensch sie doch ständig lebt?

Wer hat Angst vor’m schwarzen Mann?

Schreibe einen Kommentar